Rückblick von Margaretha Kopeinig: BürgerInnendialog zu Sozialem Europa
Die Stärkung der sozialen Säule der Europäischen Union darf nicht länger ein Wunschtraum sein. Es braucht mehr soziale Rechte und EU-Regelungen sowie die Einsicht, dass Sozialpolitik alle Bereiche der Politik umfasst. Nicht nur darüber, sondern über eine Reihe von weiteren Forderungen wurde bei der Dialogveranstaltung des Bürger:innenforums Europa und der Arbeiterkammer Wien gesprochen.
Am Freitag, dem 12. November 2021, diskutierten im AK-Bildungszentrum in Wien AK-Präsidentin Renate Anderl, Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und der Vizepräsident des Europäischen Parlaments (EVP), Othmar Karas, mit interessierten BürgerInnen über die soziale Zukunft Europas.
„Wir denken zu wenig über die soziale Spaltung der Gesellschaft nach. Diese Spaltung ist auch eine demokratiepolitische Frage. Schon längst hätte die EU die ILO-Arbeits- und Sozialstandards als Richtlinie übernehmen sollen“, verlangte Parlamentsvizepräsident Karas. AK-Chefin Anderl wies mit Nachdruck darauf hin, dass die EU vor einer „doppelten Herausforderung“ stehe: „Corona hat die soziale und wirtschaftspolitische Krise verstärkt. Dazu kommt, dass die Gesellschaft vor einer sozial-ökologischen Transformation steht.“ Dem pflichtete Vizekanzler Kogler bei. „Die soziale Absicherung der Menschen hat mit Wirtschaft, Arbeit und Umwelt zu tun.“
Die Fragen und Anliegen der PublikumsteilnehmerInnen an die EU konzentrierten sich auf die Bereiche Beschäftigung (kein Transfer von Arbeitsplätzen aus Österreich in Billiglohnländer), Ausbau der Bildungsangebote und europäische Bildungsstandards als entscheidender Faktor für Chancengleichheit sowie eine faire Entlohnung für Pflegekräfte aus ost- und südosteuropäischen Ländern in Österreich. AK-Präsidentin Anderl betonte, dass gerechte Gehälter für alle gelten sollen und dass für Konzerne jegliche Steuerschlupflöcher geschlossen werden müssen.
Einig waren sich die Podiumsteilnehmer:innen über die Einführung eines Mindestlohnes als wichtige Maßnahme im Hinblick auf ein soziales Europa. Als „nicht ganz begreiflich“ bezeichnete der Vizekanzler „den Dissens über den EU-Mindestlohn“ in der Regierungskoalition von ÖVP und Grünen. Die ÖVP hat sich gegen den Vorschlag für Mindestlohn-Richtline ausgesprochen. Aber: „Noch ist das letzte Wort in der Regierung nicht gesprochen“, fügte Werner Kogler hinzu. Die Ablehnung der ÖVP-Minister:innen gegen einen EU-Mindestlohn bezeichnete Kogler als „Galerie-Politik“.
Debattiert wurde auch über die Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Dabei geht es um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie etwa die Verschuldensregeln, für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Diese sind corona-bedingt bis Ende 2022 außer Kraft gesetzt und stehen derzeit vor einer Reform. Österreich und einige andere EU-Länder setzten sich für die strikte Einhaltung der bestehenden Regelungen ein. Für Vizekanzler Kogler ist aber klar: „Die Fiskalregeln müssen kompatibel mit einer guten Sozialpolitik sein.“ Die Verhandlungen über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts beginnen gerade und sollen während der französischen Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte 2022 beendet werden.
Um mehr soziale Gerechtigkeit in der EU herzustellen, verlangte AK-Präsidentin Renate Anderl unter anderem ein „soziales Fortschrittsprotokoll im EU-Recht zu verankern“. EU-Vizepräsident Othmar Karas sprach sich dafür aus, „die soziale Säule gleich zu behandeln wie andere Kompetenzen in der Europäischen Union“.