Bürgerbeteiligung
Der Satz „Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen“ befindet sich heute in Artikel 10 EUV, der die repräsentative Demokratie als Arbeitsweise der EU beschreibt und das Teilhaberecht der BürgerInnen demnach vorrangig parlamentarisch verortet. Ursprünglich, nämlich im ersten Entwurf der Konventsarbeitsgruppe, war jene Aussage jedoch als Paragraph 1 eines mit Grundsatz der partizipativen Demokratie betitelten Artikels vorgesehen gewesen und hatte den Fokus von der ohnehin außer Frage stehenden repräsentativen auf die partizipative Demokratie gelenkt. Auf dem Weg vom Konventsentwurf über den Verfassungsvertrag bis schließlich zum in Geltung stehenden Vertrag von Lissabon gingen aber nicht nur die Artikelüberschriften verloren, sondern auch das bei einigen Konventsmitgliedern anfänglich durchaus zu verzeichnende Bemühen, tatsächlich einen Paradigmenwechsel in der Legitimationsweise der Europäischen Union anzustoßen.
Die zusätzlichen Beteiligungsbestimmungen, die wir nunmehr im Artikel 11 EUV finden, gehen mit Ausnahme der bescheidenen Erweiterung um ein nicht-bindendes Volksbegehren – die Europäische Bürgerinitiative – nicht über jene Partizipationsvorstellungen hinaus, die ohnehin bereits 2001 im Weißbuch Europäisches Regieren der Kommission enthalten waren. So sind durch den Vertrag von Lissabon beispielsweise die schon im Weißbuch angelegten und praktizierten Online-Konsultationsmechanismen fortgeführt, ohne sie mit echten Teilhaberechten auszustatten. Nach allgemeiner politikwissenschaftlicher Überzeugung bieten sie keine Form partizipativer Demokratie, sondern lassen sich bloß als Governanceinstrument klassifizieren, um Kommissionsentscheidungen mehr Inputlegitimation zu verschaffen.
Darüber hinaus werden die etablierten Instrumente nur von einer Minderheit der Teilhabeberechtigten tatsächlich genutzt und verstärken somit die bestehende soziale Schieflage in der Repräsentation und Responsivität des politischen Systems der Europäischen Union. Der auch „Reformvertrag“ genannte Vertrag von Lissabon hat es demnach verabsäumt, die partizipative Demokratie substanziell auszubauen und dadurch der Europäischen Union nach dem spätestens in den 1990er Jahren verlorengegangenen permissive consensus eine für die Zukunft tragfähige legitimatorische Grundlage zu geben. Das in Literatur und Feuilleton hinreichend beschriebene Demokratiedefizit besteht weiter, zumal „Demokratie“ und „Partizipation“ auf der diskursiven Ebene mehr Aufmerksamkeit erhalten als in der politischen Praxis.
Wie nicht zuletzt die Umfragen im Eurobarometer sowie die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas zeigten, verlangen die BürgerInnen eine partizipatorische Wende des europäischen politischen Systems. Es bedarf einer konkreten Beteiligungsrevolution statt bloß rhetorischer Veränderungen ohne konkrete Auswirkungen. Laut Special Eurobarometer 500 Future of Europe (2021) fordert die überwiegende Mehrheit der EuropäerInnen (92%), dass den BürgerInnen bei Entscheidungen, die die Zukunft Europas betreffen, mehr Gehör geschenkt wird. Zwar halten 55% der Befragten die Teilnahme an Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) für den wirksamsten Weg, allerdings befürwortet ein überaus großer Teil der Befragten durchaus ein größeres Mitspracherecht der UnionsbürgerInnen bei Entscheidungen, die die Zukunft Europas betreffen. Zudem befürworten 45% der EuropäerInnen die EU zwar grundsätzlich, allerdings nicht in ihrer bisherigen Form.
Auf Grundlage eigener Forschungsergebnisse sowie in Zusammenschau der Beratschlagung in den Bürgerforen der Konferenz zur Zukunft Europas, des European Youth Event (EYE) 2021 sowie der BürgerInnendialoge des BürgerInnen Forum Europa sprechen wir die folgenden Empfehlungen aus:
Wahlen zum Europäischen Parlament
Aufstellung länderübergreifender Kandidatenlisten:
Wir empfehlen, die bereits vor einigen Jahren gemachten ersten Reformschritte wieder aufzunehmen und den Weg transnationaler Listen zu Ende zu gehen. Da länderübergreifende Kandidatenlisten auch den Wünschen der Bürgerforen entsprechen, empfehlen wir, sie für die kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament (2024) zu verwirklichen. Für die Ausgestaltung stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl:
- Jede/r EU-Bürger/in hat eine Stimme für eine/n Kandidaten/Kandidatin auf einer EU-weiten transnationalen Liste, die von europäischen Parteien aufgestellt wird.
- Jede/r EU-Bürger/in hat zwei Stimmen: eine Stimme für eine/n Kandidaten/Kandidatin auf einer nationalen Liste, die von den nationalen Parteien aufgestellt wird (Status quo), und eine Stimme für eine/n Kandidaten/Kandidatin auf einer EU-weiten transnationalen Liste, die von europäischen Parteien aufgestellt wird. Dieser zweite Vorschlag könnte für eine Übergangszeit (EP-Wahl 2024) herangezogen werden, während ab 2029 nur noch aus transnationalen Listen gewählt würde.
Echte SpitzenkandidatInnen
Wir empfehlen, das seit 2014 etablierte System der SpitzenkandidatInnen tatsächlich für die Besetzung der Kommissionspräsidentschaft heranzuziehen, anstatt bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Persönlichkeiten ins Rennen zu schicken, die hinter verschlossenen Türen schließlich keine Chance auf diesen Posten erhalten. Die Irreführung der WählerInnen schadet dem Vertrauen ins politische System und gibt der Kritik am Demokratiedefizit der EU weitere Nahrung.
Schaffung eines EU-weiten Wählerverzeichnisses & Eintragung von Amts wegen am Hauptwohnsitz
Bislang müssen sich EU-BürgerInnen, die in einem anderen als ihrem Staatsbürgerschaftsstaat leben, bei EP-Wahlen registrieren. Beispiel Österreich: Nicht- österreichische EU-BürgerInnen mit Hauptwohnsitz in Österreich müssen einen Antrag stellen, um in der Europawählerevidenz erfasst zu werden, wohingegen sie in die lokalen Wählerevidenzen (z.B. für die Teilnahme an Gemeinderatswahlen) von Amts wegen eingetragen werden. Wir empfehlen die Eintragung in die Europawählerevidenz am Hauptwohnsitz von Amts wegen. Durch diese Neuerung entfällt das Recht, wahlweise die österreichischen Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEP) oder die Abgeordneten des Herkunftslandes zu wählen. Zu wählen wären nur noch die MEP im aktuellen Hauptwohnsitzstaat.
Wahlberechtigung auch für regionale und nationale Wahlen
Wir empfehlen zur Stärkung der Unionsbürgerschafft, dass EU-BürgerInnen, die ihren Hauptwohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat nehmen, nicht nur auf kommunaler Ebene wahlberechtigt sind, sondern an allen Wahlen teilnehmen dürfen. Als europäisches Grundprinzip sollten gelten, dass ausschließlich dort gewählt wird, wo der Hauptwohnsitz gemeldet ist: Wer hier lebt, ist von hier. Unsere Empfehlung schließt an erste Vorstöße an, wie sie zum Beispiel der Vorarlberger Landtag mit den Stimmen von ÖVP, Grünen, SPÖ und NEOS im Feber 2019 für die Landtagswahlen bereits ausgesprochen hat.
Angleichung des aktiven und passiven Wahlalters zum EP sowie Senkung auf 16 Jahre: Während für ÖsterreicherInnen und MalteserInnen (und für BelgierInnen ab 2024) das aktive Wahlalter 16 gilt, dürfen andere EU-BürgerInnen erst mit 18 ihre MEPs wählen. Noch größer sind die Unterschiede beim passiven Wahlalter: Während man als ÖsterreicherIn mit 18 zum MEP gewählt werden darf, müssen GriechInnen bereits 25 Jahre alt sein, um zu kandidieren.
Wir empfehlen, der Resolution des Europäischen Parlaments aus dem November 2015 (2015/2035(INL)) Folge zu leisten und das Wahlalter EU-weit zu vereinheitlichen und zudem in beiden Fällen auf 16 Jahre zu senken. Das niedrige passive Wahlrecht soll zu einer Erhöhung der Wahlbeteiligung junger Menschen sowie ihrer Identifikation mit den demokratischen Werten der EU durch deskriptive Repräsentation im Europäischen Parlament beitragen.
Erklärung des 9. Mai zum Wahltag und Feiertag
Wir empfehlen als langfristiges Ziel, einen einzigen EU-weiten Wahltag für die Wahlen zum EP (und als Stimmtag für künftige EU-Volksabstimmungen, siehe unten) zu etablieren, nämlich den Europatag am 9. Mai. Da dies allerdings mit nationalen Traditionen bricht – manche Staaten wählen an Sonntagen, andere an Wochentagen – und somit für Unmut sorgen könnte, ist die Erklärung des 9. Mai zu einem Feiertag in Österreich das kurzfristige Ziel. Dieser zusätzliche Urlaubstag und schulfreie Tag würde eine positive Assoziation mit der EU hervorrufen und vermutlich die Wahlbeteiligung erhöhen.
Europäische Bürgerversammlungen
Aufbauend auf den positiven Erfahrungen mit den Bürgerforen der Konferenz zur Zukunft Europas empfehlen wir regelmäßige Europäische Bürgerversammlungen (EB), die per Losverfahren und repräsentativ gestaltet sind. Durch diese Teilhabe der EU-BürgerInnen an der Politikgestaltung würde die Transparenz der Entscheidungsfindung verbessert, die demokratische Legitimität erhöht und letztlich wohl das Misstrauen in die politischen Institutionen allmählich überwunden.
Für die Ausgestaltung der EB stehen mehrere Möglichkeiten zur Auswahl:
- eine verpflichtende EB pro Jahr zu einem aktuellen Thema;
- EB zu taxativ aufgelisteten Themen: Gesetzesänderungen in bestimmten Politikbereichen werden verpflichtend einer EB unterworfen
- EB als Konsequenz von Europäischen Bürgerinitiativen (EBI): EBI, die die erforderlichen Unterschriften (1 Million aus mindestens 7 EU-Staaten) erreichen, führen zu einer EB.
EU-weite Volksabstimmungen
Um die direkte Teilhabe der EU-BürgerInnen zu stärken und die Identifikation mit der EU zu erhöhen, empfehlen wir die Einführung EU-weiter Volksabstimmungen. Für deren Ausgestaltung stehen mehrere Möglichkeiten zur Auswahl:
- Volksabstimmungen nach erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiativen (EBI)
Erfolgreiche Bürgerinitiativen werden im EP diskutiert und führen zu einer EB. Die InitiatorInnen der EBI und VertreterInnen der EB erarbeiten im und gemeinsam mit dem EP einen Vorschlag für eine EB. Sollten InitiatorInnen sowie die VertreterInnen der EB und das EP zu keinem gemeinsamen Legislativvorschlag kommen, führt dies zu einer EU-weiten Volksabstimmung. Bei diesem haben die EU-Institutionen die Möglichkeit, am Stimmzettel einen eigenen Vorschlag zu unterbreiten.
- Volksabstimmungen zu Vertragsänderungen: siehe unten bei „verfassungsgebende Versammlung“
- Regelmäßige Frage nach Verfassungskonvent
Nach dem Vorbild US-amerikanischer automatic ballot referrals empfehlen wir, alle zwanzig Jahre – also anlässlich jeder vierten Wahl zum Europäischen Parlament – auf dem Stimmzettel den Wunsch nach einem neuerlichen Verfassungskonvent zu erheben. Auf diese Weise erlangt jede Generation die Möglichkeit, darüber abzustimmen, ob die Verfasstheit der Europäischen Union weiterhin zeitgemäß ist. Eine qualifizierte Mehrheit aus Stimmen und Staaten löst eine verfassungsgebende Versammlung aus.
Stärkung des Europäischen Parlaments
Das Europäische Parlament ist das einzige direkt gewählte, multinationale Parlament der Welt mit Gesetzgebungskompetenz. Unsere Parlamente sind das Herzstück der liberalen europäischen Demokratie. Auch aus diesem Grund treten wir für den Grundsatz ein, dass es keine Entscheidung auf EU-Ebene ohne die gleichberechtigte und legislative Mitentscheidung des EP gibt.
Deshalb muss die Einstimmigkeit im Rat, wie in vielen Kapiteln und Bereichen gefordert, fallen und durch Mitentscheidung des EP und demokratischer doppelter Mehrheit (Mehrheit der Staaten, Mehrheit der BürgerInnen) im Rat ersetzt werden.
Außerdem ist das Europäische Parlament mit einem vollständigen Initiativrecht und einer vollständigen Budgethoheit auszustatten. Zudem soll das EU-Parlament auch in seiner Kontrollfunktion gestärkt werden und die Möglichkeit erhalten, Untersuchungsausschüsse einzusetzen.
EU-Verfassungskonvent
Um zahlreiche der genannten Empfehlungen und insbesondere jene, die Vertragsänderungen bedürfen, breit zu diskutieren, empfehlen wir, einen EU-Verfassungskonvent einzuberufen, in dessen Zentrum eine Europäische Bürgerversammlung steht. Den Abschluss der verfassungsgebenden Versammlung bildet eine EU-weite Volksabstimmung, die am Europatag (9. Mai) stattfinden soll, welcher – wie erwähnt – als zusätzlicher Feiertag ausgestaltet werden sollte.
Als Vorbild könnten die Verfassungsversammlungen Irlands und Islands dienen, in denen den BürgerInnen eine zentrale Rolle zukam. Denn ein solcher Konvent nach Artikel 48 darf nicht hinter verschlossenen Türen ablaufen.
Im Gegenteil: Jetzt sollte der Moment sein, an dem die EU sich weiter öffnet und die BürgerInnen vermehrt und aktiv in diesen Prozess einbezieht – in Form von echten Mitwirkungsangeboten.
Bestehende demokratische Instrumente besser bekannt machen
EU-Demokratie-Website: Wir empfehlen neben all den genannten Neuerungen, die bestehenden demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten besser bekannt zu machen. Das Wissen über die demokratischen Instrumente ist keine Holschuld der BürgerInnen sondern ihr Recht und damit eine Bringschuld staatlicher und europäischer Einrichtungen. Viele Verfahren, wie etwa Online-Konsultationen, sind nicht sichtbar genug, was unter anderem an einer Dislozierung liegt. Wir empfehlen deshalb die Gestaltung einer digitalen Plattform, auf der sämtliche aktuelle Abstimmungsmöglichkeiten zusammengefasst sind („EU-Demokratie-Website“). Auf dieser Website würden aktuelle Europäische Bürgerinitiativen ebenso aufscheinen wie Konsultationen der Europäischen Kommission und Petitionen.
EU-Demokratie-Bildung / EU-Demokratie-Inserate: Darüber hinaus empfehlen wir, die Teilhabe an der Europäischen Union in die praktische politische Bildung aufzunehmen sowie regelmäßig Informationsinserate über aktuelle Beteiligungsmöglichkeiten in Massenmedien zu schalten: Die Lehrpläne sollten vorsehen, mindestens einmal pro Monat im Unterricht die EU-Demokratie-Website aufzurufen, um aktuelle Partizipationsmöglichkeiten und Themen zu diskutieren. Außerdem sollten einmal pro Monat in überregionalen Tageszeiten sowie im öffentlichen Rundfunk Einschaltungen im öffentlichen Interesse („Belangsendung“) getätigt werden.
Demokratiefonds: Partizipation finanziell unterstützen
Wie zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, ist Partizipation auch eine Frage der sozialen Lage. Wer über mehr Bildung und Vermögen verfügt, nimmt auch mehr Möglichkeiten der Beteiligung wahr. Dies hat wiederum Auswirkung auf die Themensetzung und die politische Responsivität. Um die soziale Schieflage zumindest ein wenig auszugleichen, empfehlen wir die Einrichtung eines Demokratiefonds. Aus diesem könnten Anschubfinanzierungen für Europäische Bürgerinitiativen, zwischenstaatliche Bürgerforen und ähnliche demokratiefördernde Interaktionen beglichen werden, wie sie auch das Europäische Bürgerforum empfiehlt.
Vorrang für Demokratie als EU-Beitrittskriterium
Wir empfehlen, dem Kopenhagener Kriterium der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung Vorrang gegenüber dem wirtschaftlichen Kriterium einzuräumen. Beitrittskandidaten, die sich durch besondere Errungenschaften im Bereich der Partizipation auszeichnen, sollten vorrangig aufgenommen werden.