Energiewende
Europa ist mit einer Abfolge sich potenzierender Krisen konfrontiert. Klimakrise, Pandemie und die russische Invasion in der Ukraine stellen lange verfolgte Grundsätze der Energiepolitik in Frage. Die europäische Energiepolitik braucht daher eine substanzielle Neuausrichtung. Ein zukunftsfähiges europäisches Energiesystem muss drei wesentliche Kriterien erfüllen: Es muss sicher, sauber und leistbar sein. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es in vielen Bereichen – darunter die Innovations- und Industriepolitik – eine grundsätzliche Neuausrichtung. Die konkreten und sich abzeichnenden Auswirkungen der multiplen Krisen im Bereich der Umwelt, des sozialen Zusammenhalts und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit zeigen, wie weit die Schockwellen des aus den Fugen geratenen Energiesystems reichen. Europa befindet sich mitten in einem globalen Wirtschaftskrieg, in dem nicht weniger entschieden wird als die zukünftigen Existenzbedingungen und die Wohlstandsverteilung zwischen den großen Wirtschaftsräumen und innerhalb der europäischen Gesellschaft.
Die Russland-Krise hat Europa mit einer massiven Abhängigkeit von autokratischen Regimen konfrontiert, die weitgehende sicherheits- und geopolitische Konsequenzen hat. Diese Abhängigkeiten lassen sich nicht in kurzer Zeit auf null zurückführen, aber sie müssen maßgeblich reduziert und diversifiziert werden und durch eine deutlich höhere strategische Autonomie in der Energieversorgung ersetzt werden. Dabei muss Europa mit Augenmaß vorgehen, ohne die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft, den hohen Grad an sozialer Sicherheit und den hohen Lebensstandard aufs Spiel zu setzen. Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen wird nicht nur den klimapolitischen, sondern auch den geostrategischen Notwendigkeiten gerecht.
Die strategische Antwort Europas kann nur die konsequente Dekarbonisierung der Wirtschaft sein. Das erfordert einen enormen Innovationsschub. Das Energiesystem der Zukunft muss dezentraler, digitaler und demokratischer werden. Das stellt mittel- und langfristig eine enorme Chance zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft dar. Kurzfristig steht Europa allerdings vor enormen Herausforderungen, die mit Wohlstandsverlusten verbunden sein können. Deshalb muss der Ausstieg in Schritten vollzogen werden und einem ambitionierten Zeitplan folgen. Mobilität und Stromerzeugung können am raschesten auf fossile Brennstoffe verzichten, der Übergang im Bereich Haushalte und Industrie wird länger dauern. In der Folge wird sich der Technologiemix in Energieerzeugung, Speicherung und Anwendung maßgeblich verändern. Viele der dafür notwendigen Technologien stecken noch in den Kinderschuhen. Der Innovations- und Industriepolitik sowie der Regulierung der Märkte kommt deshalb eine Schlüsselrolle zu.
Klimakrise, Pandemie und Energiekrise stellen anspruchsvolle Anforderungen an Politik und Regulierung. Der Staat wird in vielen Sektoren zum Player auf den Märkten. Technologievorgaben im Energiesystem, Bailoutprogramme im Gefolge von Lockdowns oder die staatliche Bevorratung von Öl-, Kohle- und Gasreserven sind dabei die augenscheinlichsten Interventionen. Die öffentliche Hand ist gefordert durch eine besonnene Ordnungspolitik das Marktgeschehen effizient zu lenken.
Um diese Energiewende erfolgreich zu gestalten, ist die Umsetzung folgender konkreter Forderungen notwendig:
Europa braucht einen umfassenden Energieinfrastruktur-Plan. Um den europäischen Binnenmarkt für Energie zu vervollständigen, müssen physikalische Grenzen überwunden werden. Der Aufbau eines leistungsfähigen transnationalen europäischen Stromleitungs- und Pipelinesystems ist notwendig. Der Austausch leitungsgebundener Energie zwischen den Mitgliedsländern muss gefördert werden. Das ist ein wesentlicher Beitrag um innereuropäische Ressourcen – zum Beispiel Strom aus Off-Shore-Windkraftwerken aus der Nordsee, aus südeuropäischer Photovoltaikproduktion oder aus alpiner Wasserkraft – effizienter zu nutzen und gleichzeitig die Erpressbarkeit einzelner Länder zu verringern. Dieser Plan muss auch die Anbindung Europas an potenzielle Lieferanten außerhalb der EU beinhalten. Dazu zählen etwa Hochspannungsstromkabel, Pipelineverbindungen für Wasserstoff und Gas oder LNG-Terminals. Dafür braucht es erhebliche Investitionen und die massive Beschleunigung von Verfahren und deren Umsetzung. Die EU-Kommission soll für Projekte mit strategischer Bedeutung die Planungs- und Umsetzungskompetenz erhalten.
Kalorische Kraftwerke werden noch für einen längeren Übergangszeitraum preissetzende Wirkung am europäischen Strommarkt haben. Für Perioden erheblicher Marktübertreibungen, die den sozialen Zusammenhalt und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gefährden, muss ein Mechanismus eingesetzt werden, um eine Preisdämpfung zu erreichen. Vorstellbar wäre es einen solchen Mechanismus bei einer mehr als sechs Monate anhaltenden Preissteigerung von mehr als 100 % gegenüber dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahre auszulösen. Das könnte etwa dadurch erfolgen, dass kalorische Kraftwerke, unter Wahrung einer angemessenen Kapitalrendite der Eigentümer, vorübergehend zentral bewirtschaftet werden. Erfolgt das europaweit, würde sich dadurch ein wesentlicher Lenkungseffekt ergeben, der einen spekulativen Preisauftrieb wirksam begrenzt.
Der wirksamste Mechanismus zur zukünftigen Reduktion der Preise ist der Ausbau von Kapazitäten, die de facto keine bzw. niedrige variable Kosten aufweisen. Das trifft etwa auf Wasserkraft, Wind- und Sonnenstrom zu. Anders als thermische Kraftwerke können sie aber nicht durchgehend Strom erzeugen. Die bisherigen Ziele des Green Deal sind im Lichte der jüngsten Entwicklungen daher zu beschleunigen. Der Anteil der Erneuerbaren am Gesamtenergieverbrauch soll bis 2030 auf 50 % erhöht werden und ab 2040 sollen für Stromerzeugung und Mobilität nur noch CO2-freie Energiequellen herangezogen werden.
Um die Sicherheit der Energieversorgung bei forciertem Einsatz von erneuerbaren Energieträgern zu gewährleisten, soll gemeinsam mit dem Ausbau der Erneuerbaren ein ambitioniertes Programm zur Etablierung von Speicherkapazitäten umgesetzt werden. Bei allen neuen Erzeugungsprojekten muss verpflichtende Speicherkapazität im Ausmaß der doppelten Erzeugungskapazität installiert werden. Entsprechende Förderprogramme sind zu verabschieden.
Europa braucht technologische Autonomie, um Versorgungssicherheit gewährleisten zu können. Photovoltaik, Windenergie, Geothermie und vor allem Speichertechnologie sind dafür von essenzieller Bedeutung. In vielen dieser Sektoren hat Europa die Entwicklung versäumt. Im Bereich der Batteriezellenfertigung wurden ambitionierte Ziele gesetzt und konsequent umgesetzt. Im Bereich der Photovoltaik stehen wir wieder am Anfang, bei Windkraftanlagen verliert Europa an Boden. Heute kommen nahezu alle Zellen, die in Solarpanels in Europa verbaut werden, aus Asien. Das schafft eine umfassende Abhängigkeit, die insbesondere im Fall von Lieferkettenstörungen maßgebliche Probleme schafft. Das Ziel des Umbaus des Energiesystems wird solcherart massiv gefährdet. Ohne eigene Produktion von Solar- und Batteriezellen ist die Energiewende nicht zu schaffen. Europa muss umfassende europäische Lieferketten für die Schlüsseltechnologien der Zukunft aufbauen. Zumindest jede zweite Energieerzeugungsanlage oder -speicherkapazität muss aus europäischer Fertigung stammen. Diese Zielvorstellung kann etwa umgesetzt werden, in dem nur Anlagen mit minimalem CO2-Footprint zugelassen werden. Dabei ist die CO2-Bilanz der gesamten Lieferkette zu berücksichtigen.
Der Aufbau von Forschungs-und Produktionskapazitäten im Bereich Energietechnologien muss forciert werden. Entsprechende Initiativen sind als Vorhaben von gemeinsamem Interesse zu definieren. Förderungen von bis zu 50 % des Investments müssen ermöglicht werden, um den Aufbau eigener strategischer Kapazitäten zu ermöglichen.
Um die Energiewende zu meistern benötigt es bedeutend mehr gut ausgebildete Arbeitskräfte. Ein Mangel an qualifizierten Experten ist eine der größten Herausforderungen und bremst derzeit das Ausbautempo genauso wie der Mangel an PV-Panels und Zellen. Dementsprechend müssen duale, schulische und tertiäre Ausbildung ausgebaut werden. Betriebe, Schule und Universitäten sollen dabei unterstützt werden.
Die Energiewende wird die Nachfrage nach zentralen Metallen erhöhen. Der Bedarf an Kupfer, Lithium, Nickel oder Kobalt wird sich vervielfachen. Europa verfügt nur über sehr begrenzte eigene Ressourcen und steht heute in Rohstoffkonkurrenz mit anderen Wirtschaftsmächten. Es braucht eine zentrale Beschaffungsstrategie etwa in Afrika und klare Priorisierungsregeln wie etwa ein Exportverbot für Kupferschrott.
Europas Energiewende wird noch für einen längeren Zeitraum höhere Energiepreise nach sich ziehen. Das wird einen Umbauprozess der Wirtschaftsstruktur zur Folge haben. Unternehmen werden sich anpassen und neue Chancen nützen. Gleichzeitig braucht Europa, um die Energiewende zu realisieren, eine leistungsfähige Grundstoffindustrie. In diesen energieintensiven, zukunftskritischen Sektoren wie etwa der Stahlindustrie, braucht es fairen Wettbewerb mit Ländern, die ihre Energieversorgung nicht im selben Ausmaß auf CO2-Vermeidung umstellen. Der Zugang zum Binnenmarkt ist an die Einhaltung strikter Standards zu binden. Das muss gleichermaßen für Rohprodukte wie auch für verarbeitete Produkte gelten. Die EU muss ihre handelspolitischen Vereinbarungen gemäß dieses Kriteriums überprüfen und einen entsprechenden Ausgleichsmechanismus festlegen, der den Zugang zum Binnenmarkt regelt.