BürgerInnen Forum Europa Menü

Europas Rolle in der humanitären Flüchtlingspolitik

The Flag of Europe on military uniform. Collage.

Anhaltende Unruhen und Konflikte, die globale Klimakrise, rasant steigende Lebensmittel- und Energiepreise und die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie machen unsere Welt zunehmend komplex und instabil – der Krieg in der Ukraine führt uns dies aktuell dramatisch vor Augen. Allein die weltweiten Weizenpreise stiegen mit Beginn des Kriegs in der Ukraine um 20 % an, während die Rohölpreise in den vergangenen zwölf Monaten um über 70 % gestiegen sind, mit dramatischen Konsequenzen für die weltweiten Verbraucherpreise. Auch ist die Region um das Schwarze Meer eines der weltweit wichtigsten Gebiete für die Getreide- und Agrarproduktion. Auf die Ukraine und Russland entfallen beispielweise 30 % der weltweiten Weizenexporte, sodass jede Unterbrechung der Produktion und Lieferkette die Preise weiter in die Höhe treiben könnte.

 

Die Kollateralschäden gehen weit über die Ukraine und Osteuropa hinaus. Am meisten betroffen sind Länder, die stark von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, zum Beispiel große Teile des Nahen Ostens; Länder, die nicht nur auf importierte Lebensmittel angewiesen sind, sondern ohnehin unter politischer und wirtschaftlicher Fragilität leiden, wie Haiti und der Libanon; und diejenigen Länder, deren Importbedarf aufgrund von Dürren gestiegen ist, wie Afghanistan.

 

Steigende Preise, Konflikte, extreme Wetterereignisse und wirtschaftliche Probleme begeben sich in einen Teufelskreis und stellen eine existenzielle Bedrohung für etliche Menschen dar. Humanitäre Bedürfnisse steigen und Menschen bleibt oft keine andere Wahl als aus ihrer Heimat zu fliehen – auch nach Europa. Nach Schätzungen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) benötigen derzeit 283 Millionen Menschen weltweit dringende Ernährungshilfe. Die Zahl der Vertriebenen – zu denen Binnenvertriebene, Flüchtlinge, Asylsuchende und ins Ausland vertriebene Venezolaner gehören – hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Ende 2020 waren weltweit 89 Millionen Menschen auf der Flucht.

 

Wenn sich der Trend der steigenden Lebensmittelpreise fortsetzt, werden Akteure wie WFP in zweierlei Hinsicht betroffen sein: Es wird mehr kosten, Lebensmittel für Hungernde zu kaufen, und die Zahl der Menschen, die Hilfe benötigen, wird rasant zunehmen.

 

Europa hat deshalb das Interesse und die Möglichkeiten, jetzt auf humanitärer Ebene aktiv zu werden, anstatt sich reaktiv zu verhalten.

 

Finanzielle und politische Kosten der Untätigkeit

Humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht ist mit Kosten verbunden. Diese Hilfe nicht zu leisten, ist jedoch mit entschieden höheren Kosten verbunden – besonders für Europa.

Für Menschen auf der Flucht sind die Nachbarländer oftmals die erste Anlaufstelle. 2020 lebten weltweit knapp drei von vier Vertriebenen in Ländern, die an ihre Heimatländer grenzen. Mehr als die Hälfte von ihnen kam aus nur vier Ländern – Syrien, Venezuela, Afghanistan und Südsudan – und die Nachbarländer Türkei, Kolumbien, Pakistan und Uganda waren die vier Länder, die die meisten Vertriebenen aufnehmen.

Ohne ausreichende Unterstützung können Flüchtlinge keine Lebensgrundlage aufbauen. Ein Mangel an Hilfe vor Ort bewirkt oftmals, dass die Betroffenen erneut aufbrechen und in weiter entfernten Ländern Sicherheit suchen, wie dem globalen Norden. Die Kosten humanitärer Untätigkeit sind grenzüberschreitend. Sobald Flüchtlinge an den Grenzen Europas und anderswo ankommen, beginnen diese Geberländer buchstäblich, für ihre eigene Untätigkeit zu bezahlen.

Während spätes Handeln einen immens hohen finanziellen Preis hat – für jeden US-Dollar, der für eine gewaltsam vertriebene Person in Entwicklungsländern ausgegeben wird, gehen 70 US-Dollar an einen Asylbewerber in einem Geberland – gehen die Auswirkungen weit über das hinaus, was monetär gemessen werden kann. In den vergangenen Jahren haben Geberländer mehr Hilfsgelder für Asylsuchende innerhalb ihres eigenen Landes aufgebracht als für humanitäre Hilfe insgesamt.

Der politische Preis für Tatenlosigkeit ist hoch. Seit der Flüchtlingswelle in Europa von 2015 hat sich der politische Diskurs stark gewendet und Parteien mit stark polarisierender Rhetorik gewinnen an Zuspruch. Das Thema Migration hatte beispielsweise Auswirkungen auf die knappe Entscheidung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien, die Europäische Union zu verlassen.

 

Gesellschaftliche Auswirkungen

Humanitäre Untätigkeit in Entwicklungsländern kann auch unabhängig von Flüchtlingsströmen dramatische Auswirkungen auf Geberländer haben. In Afghanistan beispielsweise hat seit der Übernahme der Taliban letzten Jahres die Produktion von Mohn deutlich zugenommen. Opium benötigt eine geringere Bewässerung und aufgrund eines bestehenden Schmuggler-Netzwerks bietet es mehr finanzielle Sicherheit für viele Menschen, deren Lebensgrundlage gefährdet ist.

Da Afghanistan den Löwenanteil der globalen Opium-Produktion ausmacht und auch den europäischen Markt bedient, könnte der Drogenanstieg in Afghanistan auch europäische Gesellschaften beeinflussen. Somit riskiert Europa durch humanitäre Tatenlosigkeit dramatische Konsequenzen für den eigenen Kontinent, über Jahrzehnte und Generationen hinweg.

 

Die indirekten Vorteile der humanitären Hilfe

Die positiven Effekte der humanitären Hilfe gehen weit über die direkte Hilfe für Flüchtlinge hinaus. Die Erfahrungen von humanitären Hilfsorganisationen wie des WFP verdeutlichen, dass eine verbesserte Lebensgrundlage für Flüchtlinge in Nachbarländern – wie etwa dem Libanon – verhindern kann, dass Menschen sich auf die beschwerliche Weiterreise begeben.

Besonders hilfreich sind die Bargeldtransfers des WFP, mit denen Flüchtlinge ihre Grundbedürfnisse decken können. Die Bargeldtransfers stellen auch eine Finanzspritze für die lokale Wirtschaft dar und somit eine humanitäre und zugleich wirtschaftsfördernde Maßnahme.

 

Eine verpasste Gelegenheit für Stabilität und Frieden

Abgesehen von finanziellen und gesellschaftlichen Kosten, bedeutet humanitäre Tatenlosigkeit auch eine verpasste Gelegenheit, um die Grundlage für Stabilität und Frieden zu legen. Zunehmend mehr Studien weisen darauf hin, dass Flüchtlinge – wenn sie durch Geberländer unterstützt werden – positiv zur Friedensbildung beitragen. Mit den richtigen Qualifikationen – Sprachunterricht, praktischer Ausbildung und beruflicher Weiterbildung – ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren und sich dort leichter wieder integrieren.

Ohne adäquate Unterstützung jedoch können langwierige Flüchtlingssituationen Instabilität verursachen. Vertriebene Bevölkerungsgruppen bergen ein hohes Risiko zunehmender sozialer Spannungen, wie Konflikte um Land und begrenzte Ressourcen.

Ein Mangel an angemessener finanzieller Hilfe für Vertriebene in der Nähe ihrer Heimat bedeutet nicht nur den Verlust einer Friedensdividende, sondern möglicherweise auch den einer finanziellen Rendite. Syrische Flüchtlinge haben im Nachbarland Türkei schätzungsweise 10.000 neue Unternehmen gegründet und 100.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.

Ausblick

Eine Zunahme an Flüchtlingsströmen in Zukunft scheint wahrscheinlich – der Krieg in der Ukraine zeigt dies nur zu deutlich. Die Zahl der Menschen, die in fragilen und von Konflikten betroffenen Situationen leben – eine der Hauptursachen für Vertreibung – ist von 2010 bis 2019 um 150 Millionen gestiegen und übertrifft damit kontinuierlich das globale Bevölkerungswachstum. Der Klimawandel wiederum könnte bis 2050 216 Millionen Menschen dazu zwingen, innerhalb ihres eigenen Landes zu fliehen.

Die Analyse neuester Flüchtlingsdaten bestätigt, dass Menschen auf der Flucht längere Entfernungen als in der Vergangenheit zurücklegen und dass die durch einen Konflikt vertriebenen Menschen inzwischen über wesentlich mehr Aufnahmeländer verstreut sind als früher. OECD-Länder beherbergen einen wachsenden Anteil und nehmen heute weltweit 15 % der Flüchtlinge auf, verglichen mit 5 % vor 30 Jahren.

In einer vernetzten Welt, in der sich Menschen, Informationen und Güter problemlos um den Globus bewegen, werden die Kosten humanitärer Untätigkeit umverteilt. Eine unzureichende Unterstützung von Menschen im globalen Süden führt immer häufiger dazu, dass die Zahl der Asylsuchenden ansteigt – mit massiven Auswirkungen für Europa. Dies geschieht nicht nur, wenn Menschen in extremer Armut fliehen, um zu überleben, sondern auch wenn Stabilität bedroht ist. Eine passive humanitäre Politik bietet deshalb auch den Nährböden für zukünftige Abwanderungen.

Da die Flüchtlingsursachen etwa durch den Klimawandel und die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zunehmen, scheint die heutige reaktive humanitäre Politik keine Option mehr zu sein. Ohne politische Schlagkraft und Druck zur Beendigung von Konflikten sowie eine frühere und angemessenere Unterstützung von Vertriebenen in den Entwicklungsländern wird die europäische Flüchtlingskrise kaum ein Einzelfall bleiben.

Die gute Nachricht ist, dass die Entscheidung dazu, wie, wann und wo Hilfsgelder eingesetzt werden, weitgehend in der Hand der Geberländer liegt. Hilfsgelder können besser geografisch verteilt und früher gezahlt werden – all dies liegt im ureigenen Interesse Europas.

Konkret wird empfohlen:

  • Dass die EU die humanitäre Hilfe und Unterstützung von Geflüchteten vor Ort – in dem geografischen Kontext und den Regionen, in denen sie geflüchtet sind – verstärkt;
  • Dass die EU eine proaktive Entwicklungspolitik mit Nachdruck fortsetzt, um u.a. klimabedingte Fluchtursachen zu beheben;
  • Dass die lokale Wirtschaft in Entwicklungsländern durch geeignete Mittel gefördert wird, inklusive mittels Bargeldtransfers durch humanitäre Akteure für geflüchtete Menschen.