Gemeinsame Außenpolitik
Der Hohe Vertreter der EU, Josep Borrell, hat die Antwort der EU auf die russische Aggression in der Ukraine als „Geburt eines geopolitischen Europas“ gefeiert. Tatsächlich hat die EU in diesem Fall bis jetzt ein hohes Maß an Einigkeit und Entschlossenheit gezeigt. Sie muss allerdings in den kommenden Jahren mit weiteren schwierigen Herausforderungen rechnen. Es wäre töricht, sich in jedem dieser Fälle auf Ad-hoc-Mobilisierung zu verlassen. Vielmehr sollte die EU ihre Instrumente weiterentwickeln, um nachhaltig effektiver zu werden.
Die heutigen, in einem freundlicheren internationalen Umfeld entwickelten außenpolitischen Strukturen, leiden an einer Reihe von Defiziten. Die Entscheidungsfindung auf Grundlage der Einstimmigkeit zwischen 27 verschiedenen Ländern führt oft zu Verzögerungen und manchmal zu Blockaden. Die Rollenverteilung zwischen den verschiedenen institutionellen Akteuren, dem Europäischen Rat, dem Rat, der Kommission, dem Europäischen Auswärtigen Dienst und dem EU-Parlament, ist nicht klar definiert. Ihre LeiterInnen konkurrieren eher, als dass sie als kohärentes Team agieren. Und die Mitgliedstaaten, die ihre eigene nationale Außenpolitik parallel zur EU-Außenpolitik betreiben, zeigen oft wenig Engagement für gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene.
Die folgenden Reformen könnten die Handlungsfähigkeit der EU beträchtlich erhöhen:
Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der Europäischen Außenpolitik
In den letzten Jahrzehnten ist die EU in vielen Bereichen von Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung übergegangen. In der Außenpolitik kam es trotz intensiver Diskussion nicht dazu, da eine Reihe von Ländern glauben, ihre spezifischen nationalen Interessen nur durch das Vetorecht schützen zu können.
Die Zahl der Blockierungen von Entscheidungen hat sich in letzter Zeit erhöht. Die Forderung nach der Einführung von Mehrheitsentscheidungen, die ohne Vertragsänderung durch einen Beschluss des Europäischen Rats umgesetzt werden könnte, stand im Mittelpunkt der außenpolitischen Diskussionen der Zukunftskonferenz. Der Schock des Ukrainekriegs sollte ein zusätzlicher Impuls in dieser Richtung sein. Idealerweise sollte das neue Entscheidungssystem für alle nicht-militärischen Aspekte der GASP gelten. Ein schrittweises Vorgehen – beginnend mit den weniger heiklen Themen – wäre besser als gar kein Fortschritt.
Mitgliedstaaten sollten auch häufiger von der Einrichtung der „konstruktiven Enthaltung“ Gebrauch machen, die es gestattet, eine EU-Maßnahme zwar zuzulassen, von ihrer Umsetzung aber entbunden zu werden.
Konsolidierung der außenpolitischen Kapazitäten von Europäischer Kommission und EAD
Die Rückkehr der Machtpolitik und insbesondere die zunehmende Tendenz wirtschaftliche Beziehungen für die Durchsetzung geopolitischer Interessen zu instrumentalisieren, macht es notwendig, die EU-Politik in vielen Bereichen darunter Handel, Wettbewerb, Energie, Forschung, Technologie und Industrie robuster zu gestalten. Die Kommission arbeitet derzeit daran, einseitige Abhängigkeiten abzubauen, Lieferketten zu differenzieren, strategisch wichtige Kapazitäten aufzubauen und Zwangsmaßnahmen von Drittstaaten wirksamer zu bekämpfen. In allen diesen Bereichen müssen die wirtschaftlichen und die außenpolitischen Instrumente der EU im Dienst einer kohärenten strategischen Konzeption zusammengeführt werden.
Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) wurde seinerzeit außerhalb der Kommission eingerichtet, da einige Mitgliedstaaten vermeiden wollten, dass die Kommission mit sicherheitspolitischen Fragen befasst wird. Spätestens seit der Einrichtung des von der Kommission verwalteten Verteidigungsfonds besteht dieses Tabu nicht mehr. Die externen Kapazitäten des EAD, der Delegationen und der Kommission sollten unter der Leitung des Hohen Repräsentanten und Vizepräsidenten der Kommission gestärkt werden, inklusive durch Reduktion von Doppelstrukturen und Überlappungen sowie Optimierung der Koordination, was auch zu einem besser abgestimmten Einsatz wirtschaftlicher und außenpolitischer Instrumente beitragen wird.
Aufbau einer Analyse- und Koordinationskapazität für den Europäischen Rat (ER)
Der Europäische Rat ist in den letzten Jahren immer mehr zum zentralen Entscheidungsorgan in der Außenpolitik geworden, während der Außenministerrat relativ an Bedeutung verlor. Das spiegelt die Entwicklung auf Ebene der Mitgliedstaaten wider, in denen die RegierungschefInnen (bzw. die PräsidentInnen) die Leitung der internationalen Agenden zunehmend übernommen haben. Das außenpolitische Handeln des ER weist aber einige Schwächen auf. Es findet überwiegend im Krisenmanagementmodus statt. Grundsätzliche Debatten finden eher selten statt und werden oft von anderen Themen verdrängt. Die Vorbereitung der Debatten läuft teilweise bei den Außenministern teilweise bei den EU-Beratern („Sherpas“) der Regierungschefs, wobei die Arbeitsteilung oft unklar ist.
Die Einrichtung einer Analyse- und Koordinationskapazität, bestehend aus Elementen des heutigen EAD und den außenpolitischen Abteilungen des Ratssekretariats könnte hier eine deutliche Verbesserung bringen. Ihre Funktionen würden in etwa der Rolle des „National Security Council“ in Washington entsprechen. Sie würde einerseits auf der Basis von Inputs der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten Analysen und Entscheidungsvorlagen für den ER erstellen. Andererseits hätte sie aber auch eine umfassende Koordinationsfunktion, die sich nicht nur auf die außenpolitischen Akteure in Brüssel bezieht, sondern auch die Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten unterstützen sollte (z. B. Austausch von Einschätzungen, Abstimmung von Schlüsselbotschaften, Koordination von Besuchsdiplomatie etc.).
Verstärkte Einbeziehung der Regierungschefs und Außenminister in die Umsetzung der EU-Außenpolitik
EU-Mitgliedstaaten priorisieren immer wieder ihre nationale Außenpolitik und engagieren sich nicht ausreichend für die gemeinsame Arbeit auf europäischer Ebene. Die Idee, dieser Tendenz entgegenzuwirken, indem einzelne oder Gruppen von außenpolitischen Akteuren der Mitgliedstaaten von EU-Institutionen damit betraut werden, sich bestimmter Krisen oder Anliegen anzunehmen, ist häufig diskutiert aber relativ selten umgesetzt worden. Mangelndes Vertrauen und institutionelle Eifersucht wirkten sich bremsend aus. HR Josep Borrell erwies sich hier offener als seine VorgängerInnen. So wurde in seinem Auftrag der finnische Außenminister in der äthiopischen und der schwedische in der jemenitischen Krise aktiv. Aber das Potential solcher Mandatierungen von nationalen Akteuren ist bei weitem nicht ausgeschöpft.
Die stärkere operationelle Einbindung der Mitgliedstaaten sollte zur ständigen Praxis der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) werden. Dies würde eine stärkere Identifikation der Regierungen mit der gemeinsamen Außenpolitik bewirken und dieser auch die beträchtlichen nationalen Ressourcen besser erschließen. Durch die systematische Einbindung der EU-Institutionen und insbesondere der EU-Delegationen in diese mandatierten nationalen Aktivitäten könnte die Kohärenz der Außenpolitik insgesamt gesichert werden. Die oben erwähnte Analyse- und Koordinationskapazität könnte hier eine wichtige unterstützende Rolle spielen.