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Nachbarschaftspolitik

The Flag of Europe on military uniform. Collage.

Der europäische Einigungsprozess hat sich von Anbeginn in allererster Linie als Friedenswerk verstanden. Tatsächlich hat er den europäischen Ländern und Völkern, die an ihm teilhaben, die längste ununterbrochene Friedensperiode in der Geschichte des Kontinents beschert. Nach 1989 hat dieser Prozess entscheidend dazu beigetragen, die Ost-West-Teilung zu überwinden, und Österreich in das Zentrum des neuen Europas gerückt.

Schon in den 90er Jahren war Europa allerdings durch die blutigen Konflikte auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens massiv herausgefordert. Die EU ist damals zum Schluss gelangt, dass der Friede in Europa nur dann dauerhaft gesichert werden kann, wenn es gelingt, den Balkan voll in das gemeinsame Europa einzubetten. Der Region wurde deshalb in der Thessaloniki-Agenda von 2003 versprochen, dass ihre Zukunft in der Europäischen Union liegt. Diese Zusage bleibt fast 20 Jahre später – sieht man vom EU-Beitritt Kroatiens im Jahr 2014 ab – unerfüllt. In den letzten Jahren ist der Prozess der Heranführung der Balkanländer an die EU immer stärker ins Stocken geraten, teils ist er sogar rückläufig.

Ukraine/Osteuropa

Seit dem 24. Februar 2022 ist Europa mit der russischen Aggression gegen die Ukraine konfrontiert; dem größten bewaffneten Konflikt in Europa seit 1945, der bereits zehntausende Menschenleben gekostet, Millionen in die Flucht getrieben hat und in gröbster Weise alle Prinzipien verletzt, die das Zusammenleben auf unserem Kontinent bestimmen – insbesondere die Charta der Vereinten Nationen, die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris; einem Krieg, der durch systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung und andere schwere Kriegsverbrechen gekennzeichnet ist.

Die Europäische Union kann es nicht hinnehmen, dass im Europa des 21. Jahrhundert mit kriegerischen Mitteln versucht wird, „Einflusssphären“ abzusichern und ein Land daran zu hindern, sich in freier Selbstbestimmung für eine europäische Zukunft zu entscheiden. Die Europäische Union hat darum entschieden, gegen den Aggressor das umfassendste Paket an Wirtschaftssanktionen in ihrer Geschichte zu verhängen und dem ukrainischen Widerstand mit Waffenlieferungen beizustehen. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben die Ukraine als „Mitglied der europäischen Familie“ begrüßt und den – seit dem 26. Februar 2022 vorliegenden – ukrainischen EU-Beitrittsantrag der Kommission zur Stellungnahme übermittelt. Es ist davon auszugehen, dass dieser „Avis“ schon in den allernächsten Wochen vorliegen wird. Das Europäische Parlament hat Kommission und Rat aufgefordert, darauf hinzuarbeiten, dass der Ukraine der Status eines EU-Beitrittswerberlandes zuerkannt wird. Es ist davon auszugehen, dass die Kommission dem Europäischen Rat einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet.

Den Kandidatenstatus der Ukraine, deren Westgrenze Wien näher liegt als Bregenz, sollte auch Österreich unterstützen – als Ausdruck der Solidarität mit ihrem Kampf für ihre europäische Zukunft. Klar ist freilich, dass der Weg der Ukraine in die EU ein langer und schwieriger sein dürfte, weshalb über Zwischenschritte auf dem Weg zur vollen Integration nachzudenken sein wird. Erste Priorität des EU wird es sein müssen, den Wiederaufbau einer demokratischen Ukraine zu unterstützen, sobald der russische Angriff beendet ist. Auf dieser Basis wird es dann gelten, das bestehende Assoziierungsabkommen beschleunigt zu implementieren und wo nötig zu ergänzen, damit die Ukraine so rasch und umfassend wie möglich in den europäischen Binnenmarkt hereingeführt werden kann. Dies gilt auch für die Republik Moldau und Georgien.

Westbalkan

Wenn die EU in diesen Wochen unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine über die europäische Zukunft ihrer Partner in Osteuropa nachdenkt, dann darf sie dabei aber nicht auf jene Nachbarn vergessen, denen sie schon vor bald zwei Jahrzehnten eine solche Perspektive zugesagt hat.

Dass die Bemühungen um eine Erweiterung der EU um die Balkanländer seit Jahren praktisch auf der Stelle treten, hat einen destabilisierenden Effekt.  Ohne klare europäische Zukunftsaussichten für die Region ist es insbesondere unmöglich, der massiven Abwanderung entgegenzuwirken, unter der die Länder des westlichen Balkans leiden: Seit 1990 haben mehr als 4,5 Millionen Menschen die Region verlassen. Dies betrifft u.a. jeweils ein Drittel der Bevölkerung von Albanien und Bosnien und Herzegowina. Während klare politische Signale aus Brüssel ausbleiben, zeigen Russland und China sowie die Türkei verstärkt politische und wirtschaftliche Präsenz in der Region, was gerade auch in der derzeitigen Situation Anlass zu Besorgnis gibt.

Ganz besonders hat es der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union in der Region geschadet, dass im Rat der EU die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien seit Jahren blockiert ist, obwohl beide Staaten, die von ihnen verlangten Vorbedingungen für einen solchen Schritt erfüllt haben. Selbiges gilt für die Visaliberalisierung für Kosovo, die seit Erfüllung aller Bedingungen 2018 im Rat blockiert wird. Aus österreichischer Sicht ist nicht vorstellbar, dass in der Europäischen Union Beschlüsse zum europäischen Weg der Länder Osteuropas fallen, ohne dass es auch in diesen Fragen Bewegung gibt. In diesem Zusammenhang sollte auch den Verhandlungen mit Serbien und Montenegro neuer Schwung verliehen und den berechtigten Erwartungen Bosniens und Herzegowinas und des Kosovo vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Um raschere Fortschritte bei der Integration des wesentlichen Balkans zu erzielen, wären freilich erhebliche zusätzliche Anstrengungen der Länder der Region erforderlich. In allen Staaten der Region gibt es noch beträchtliche Defizite im Bereich der Rechtstaatlichkeit. Unverzichtbar ist bei Ländern, die EU-Mitglieder werden wollen, eine klare und glaubwürdige Absage an jede Form des Nationalismus; ebenso die nachhaltige Überwindung der blutigen Konflikte der Vergangenheit und die solidarische Unterstützung gemeinsamer europäischer Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Aufgrund der Verhältnisse in der Region und der zunehmenden Komplexität der Aufnahmeverfahren der EU ist zu erwarten, dass der Weg der einzelnen Staaten bis zum EU-Beitritt länger und schwieriger sein wird, als dies zur Zeit der EU-Osterweiterung erhofft worden war. Das kann aber nicht heißen, dass die Europäische Union hinsichtlich des 2003 gegebenen Versprechens wortbrüchig wird. Es wird aber auch hier notwendig sein, realistische – und für die Länder der Region attraktivere – Zwischenschritte auf dem Weg zur vollen EU-Integration zu definieren.

Vorschläge führender europäischer Thinktanks wie CEPS und ESI in Richtung eines „stufenweisen Beitritts“ sind in diesem Zusammenhang durchaus erwägenswert. Insbesondere könnte eine Zusammenarbeit nach dem Muster des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) Sinn machen, vorausgesetzt jedoch, dass das Endziel der vollen EU-Mitgliedschaft dabei nicht in Frage gestellt wird.

Alois Mock hat schon vor 30 Jahren darauf hingewiesen, dass das gemeinsame Europa Gefahr läuft, Instabilität zu importieren, wenn es ihm nicht rechtzeitig gelingt, Stabilität zu exportieren. Wir sollten den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine daher jedenfalls auch als Weckruf verstehen, unsere Bemühungen, die Länder des Westbalkans an die Europäische Union heranzuführen, vorrangig neu zu beleben.

Abschließende Empfehlungen

Es ist davon auszugehen, dass die Europäische Kommission dem Europäischen Rat in ihrer Stellungnahme zum ukrainischen EU-Beitrittsantrag vorschlagen wird der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten zuzuerkennen. Der Europäische Rat sollte diesen Vorschlag aktiv unterstützen – auch als Ausdruck seiner Solidarität mit dem Kampf der Ukraine für ihre Zukunft als Mitglied der europäischen Familie.

Angesichts der Tatsache, dass der Weg der Ukraine in die EU lang und schwierig sein wird, sollte Österreich zugleich dafür eintreten, dass das bestehende Assoziierungsabkommen beschleunigt implementiert und ergänzt wird, um die Ukraine so rasch und umfassend wie möglich in den europäischen Binnenmarkt hereinzuführen. Dies gilt auch für die Republik Moldau und Georgien.

Es ist aus österreichischer Sicht aber nicht vorstellbar, dass so wichtige Schritte zugunsten der Nachbarn der EU in Osteuropa unternommen werden, ohne dass es zugleich Bewegung im derzeit weitgehend blockierten Erweiterungsprozess mit den Ländern des Westbalkans gibt, denen schon vor fast 20 Jahren eine europäische Perspektive zugestanden worden ist.

Die EU soll die Integration von Ländern mit europäischen Bestrebungen als eine Chance für die Konsolidierung der Stabilität Europas mit Nachdruck betreiben, die Perspektiven für Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Kosovo bekräftigen und im Dialog mit dem jeweiligen Land die Anstrengungen intensivieren, um am Integrationsweg zügig voranzuschreiten.

Österreich sollte deshalb insbesondere darauf bestehen, dass der Europäische Rat zeitgleich mit der Entscheidung zur Ukraine beschließt, die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufzunehmen.

Der Weg Bosniens und Herzegowinas zum Kandidatenstatus sollte aktiv unterstützt werden. Genauso wie der europäische Weg des Kosovo aktiv unterstützt und das Versprechen der Visa-Liberalisierung raschest umgesetzt werden soll.

Aufgrund der Verhältnisse in der Region und der zunehmenden Komplexität der Aufnahmeverfahren der EU zeigt sich, dass der Weg der einzelnen Westbalkanstaaten bis zum EU-Beitritt langsamer vorangeht, als dies zur Zeit der EU-Osterweiterung erhofft worden war.

Aktuelle Vorschläge führender europäischer Thinktanks wie CEPS und ESI in Richtung eines „stufenweisen Beitritts“ sind daher unterstützenswert. Insbesondere sollte auch die Möglichkeit einer Zusammenarbeit nach dem Muster des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) geprüft werden, solange sichergestellt ist, dass das Endziel der vollen EU-Mitgliedschaft dadurch nicht in Frage gestellt wird.