Wiener Zeitung: „Bürgernähe als EU-Zukunftsmodell“
Sozialpartner, Unternehmer, lokale Behörden und vor allem die Bürger der Europäischen Union: Sie alle sollen eingebunden werden in die Gestaltung der Zukunft Europas. Das zumindest ist das Ziel einer Reformdebatte, die nun mit einiger Verspätung startet. Ein Jahr lang sollen Themen wie Klimaschutz, digitaler Wandel und soziale Gerechtigkeit diskutiert werden, parallel dazu auch der institutionelle Bereich. Online sollen sich die EU-Bürger einbringen; eine entsprechende, mehrsprachige Plattform ist am Montag gestartet worden.
Doch gibt es auch in den einzelnen Mitgliedstaaten nationale Netzwerke, die um eine breite Beteiligung werben. Eine überparteiliche Möglichkeit will etwa das „BürgerInnen Forum Europa“ bieten. Gemeinsam mit Experten sollen in den kommenden zwölf Monaten Bereiche wie Innovation, Umwelt oder Europas Rolle in der Welt diskutiert werden; Gesprächsrunden in allen Bundesländern sind geplant. „Für uns ist die EU nie fertig – sie muss ständig weiterentwickelt werden“, erklärte der Obmann des Forums, Othmar Karas zum Auftakt. Parteigrenzen will der ÖVP-Europaabgeordnete dabei nicht ziehen: Als seine Stellvertreterin konnte er seine ehemalige grüne EU-Parlamentskollegin, Ulrike Lunacek, gewinnen, und Vorstand eines Beirats ist Ex-SPÖ-Bundeskanzler Christian Kern.
„Wir-Gefühl stärken“
Das Forum will den „Mehrwert der EU“ wieder ins Bewusstsein rücken, das „Wir-Gefühl“ stärken, wie es Lunacek formulierte. Denn „die EU sind wir alle, jede und jeder Einzelne von uns“ – auch wenn es einfacher sei, „die Schuld woanders, da draußen, irgendwo, zu suchen“.
Mit dem Dilemma der Schuldzuweisung müssen EU-Institutionen wie Kommission und Parlament schon lange umgehen. Denn einerseits einigen sich Regierungspolitiker in Brüssel auf bestimmte gemeinsame Vorgaben, streichen in ihren Ländern aber vor allem die nationalen Vorteile heraus – oder begründen für sie unliebsame Regelungen mit EU-Direktiven.
Das und die zeitintensive Entscheidungsfindung in der EU ist nicht zuletzt den institutionellen Strukturen geschuldet. Für viele Beschlüsse braucht es beispielsweise die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten.
Ändern ließe sich das lediglich mit Anpassungen der EU-Verträge. Das jedoch würde ein zähes Tauziehen um Einfluss und Kontrolle bedeuten und wohl zu heftigem Streit unter den Staaten führen. Daher zeigen sich etliche Politiker skeptisch gegenüber möglichen Vertragsänderungen. Othmar Karas hingegen will dies nicht ausgeschlossen wissen. Es solle „keine Denkverbote“ geben, befand er. (czar)